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„Mitarbeitende brauchen kein agiles Mindset“

Wenn agile Transformationsprojekte scheitern, schieben Führungskräfte das nicht selten darauf, dass die Mitarbeitenden nicht das „richtige“ Mindset hätten. Doch Agilität wurde nie für Menschen erfunden, die schon ein agiles Mindset mitbringen. Agiles Arbeiten bietet grundsätzlich Raum für jede Gewohnheitshaltung und jedes Mindset, ist der Transformationsbegleiter Martin Permantier überzeugt.

„Wir stellen ab dem 1. Juni auf agil um. Dann geht hoffentlich alles ein bisschen schneller. Ihr wisst ja, die Digitalisierung macht keine Pause.“ Es mag etwas überspitzt sein, aber in etwa so geht man in vielen Unternehmen an das Thema agile Transformation heran. Kein Wunder, dass es zu Widerständen und Vorbehalten kommt und die Wirksamkeit der agilen Zusammenarbeit letztlich auf der Strecke bleibt. Stattdessen machen sich Frust, Konfusion und Zynismus breit. Aufseiten der Führungskräfte hört man dann oft Sätze wie „Mit diesen Mitarbeitenden konnte das ja auch gar nicht klappen!“.

Doch Agilität wurde nie für Menschen, die schon ein agiles Mindset mitbringen, erfunden. Agilität ist vielmehr eine Sammlung von Denk-, Führungs-, Gestaltungs- und Handlungsweisen, die Menschen dabei helfen soll, in Situationen mit viel Ungewissheit wirksam zu sein – wirksam im Sinne eines bedeutenden organisationalen Anliegens. Agilität als Mustersammlung bietet grundsätzlich Raum für jede Gewohnheitshaltung und jedes Mindset. Jedes Teammitglied kann im agilen Kontext eine Rolle einnehmen, die zu seinem kognitiven Stil, seiner Haltung passt. Denn auch agile Teams können Menschen gebrauchen, die zum Beispiel sehr rationalistisch-funktional unterwegs sind, die ein hohes Interesse an störungsfreier Arbeit haben, ihre Fachexpertise ausleben und weitergeben wollen. Oder Menschen, die sehr gemeinschaftsbestimmt-konformistisch denken und denen es daher zum Beispiel sehr stark auf das Zugehörigkeitsgefühl in der Gruppe ankommt. Diese Erkenntnis befreit uns von der Vorstellung, dass sich alle Mitarbeitenden zunächst einmal „entwickeln“ müssen, bevor agiles Arbeiten möglich ist. Wir können stattdessen flexible Kontexte so gestalten, dass einerseits jede Haltung „richtig“ bzw. „passend“ ist und andererseits Raum für jede Erweiterung der eigenen Haltung besteht.

Wenn unterschiedliche Haltungen aufeinandertreffen, kommt es natürlich zu Spannungen. Doch es ist gerade eines der Wesensmerkmale von Agilität, dass neue Nahtstellen bereitgestellt werden, die bei solchen Spannungen zeitnahe Kommunikation ermöglichen. Agile Vorgehensweisen wie Scrum verändern die Art, wann und wie wir miteinander reden – und damit auch, was von unserer Interaktion sichtbar wird. Entscheidungen werden auf anderen Wegen getroffen. Mit Macht wird anders umgegangen. Die Aufgabe von Führung ist in einem solchen agilen Setting: Kontextgestaltung. Das heißt, der Führungsjob besteht im bewussten Anlegen und Lenken von entwicklungsdienlicher Spannung (Spannungsmanagement). Führung muss alle kognitiven Stile kommunikativ einbinden – und auch in der Lage sein, sich selbst immer wieder zu reflektieren.

Wenn nun aber die Führung Agilität gar nicht erst als Teil ihrer Arbeit betrachtet, sondern als etwas deutet, das die Teams „mal ausprobieren sollten“, ist dies ein Missverständnis. Denn wenn sich Führung nicht selbst in den Kontext der Kommunikation einbringt, wird sie zum Problem. Systemische Agilität erfordert daher zwar nicht, dass die Mitarbeitenden zunächst einmal ein „agiles Mindset“ entwickeln müssen. Bei den Führungskräften sieht die Sache aber anders aus. Denn es ist an ihnen, Bedingungen zu schaffen, unter denen es leichtfällt, alle kognitiven Stile – auch die aus früheren Haltungen – kommunikativ einzubinden. Das ist nicht immer einfach, denn Menschen, die anderes gewohnt sind, erleben die neuen agilen kommunikativen Stile und Entscheidungskulturen häufig als Systembedrohung („So geht das nicht!“). Dinge scheinen ihre Ordnung zu verlieren, alles wird komplizierter, aufwendiger und verwirrender. Das geht allen so. Wenn aber die Führungskräfte in ihren alten kognitiven Gewohnheiten stecken bleiben, gefährdet dies von vornherein das agile Vorhaben.

Dann wird alles, was im Unternehmen an agilen Verfahrensweisen, Methoden und Ansätzen eingeführt wird, gleich wieder in alte Logiken übersetzt. Dailys werden dann zum Beispiel als Meetings betrachtet, in denen vor allem eine Person spricht: die Führungskraft. Sie werden als neue Möglichkeit engmaschiger Kontrolle und sinnloser Statusberichte genutzt, statt als Mittel, das hilft, die Arbeitsfähigkeit der Beteiligten sicherzustellen, ihre gegenseitige Unterstützung zu fördern und ihnen zu helfen, Hemmnisse proaktiv aus dem Weg zu räumen. Unerwartete Ergebnisse werden dann nach wie vor als Fehler angesehen und kritische Fragen in den Dailys lieber nicht angesprochen. Retrospektiven werden ausgelassen. Das Planning obliegt der Führungskraft allein, die dann den Mitarbeitenden Aufgaben zuweist. Zu diesen selbst gemachten Problemen kommen dann oft noch übergeordnete Führungskräfte mit eigenen Ansprüchen und Kunden mit zusätzlichen Aufgaben, die ad hoc berücksichtigt werden müssen, wodurch Priorisierungsschieflagen entstehen. In dieser Gemengelage reiben sich alle zwischen Verfahrensfragen und Effizienzerwartungen auf.

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Damit organisationale Agilität wirksam werden kann, braucht es daher eine Unternehmensführung, sich der Wirkung der eigenen Haltung bewusst und die bereit ist, für die notwendigen Rahmenbedingungen zu sorgen, mit gutem Beispiel voranzugehen und damit Glaubwürdigkeit, Orientierung und Vertrauen zu schaffen. Tatsächlich braucht es dafür die Hinwendung zu einem Haltungsschwerpunkt im postkonventionellen agilen Raum. In einer postkonventionellen Haltung zu sein, bedeutet zum Beispiel, Vielheit und Individualität zu erkennen und anzuerkennen, bei allen Unterschieden auch Gemeinsamkeiten zu finden, Zwischentöne zu hören und zuzulassen. Es bedeutet auch Beweglichkeit in der Perspektivverschiebung und die Bereitschaft, verschiedene Perspektiven zu inkludieren. Es impliziert Interesse am Unkonventionellen und Experimentierfreude. Wenn sich Führung – gemeint ist hier vor allem das Topmanagement – in dieser Haltung bewegt, eröffnet dies einer Organisation neue Denk-, Gestaltungs-, Entscheidungs- und Handlungsräume. Sie wird dann mit Dilemmata und Paradoxien besser umgehen, wird neue Lösungswege explorativ beschreiten können.

Ein im postkonventionellen Handlungsraum agierendes Führungsteam bringt durch seine systemische Perspektive auch konkurrierende Ansprüche und partikulare Interessen leichter in Einklang und kann Zielkonflikte weitsichtiger lösen. Es widersteht der Versuchung, in tayloristischer Manier lokale Optima für einzelne Wir-Kreise (früher Bereiche, Abteilungen etc.) anzustreben. Es gewichtet vielmehr im Zweifelsfall die nachhaltige Zufriedenheit aller Anspruchsgruppen – also die Effektivität der Organisation als Ganzes – höher als die punktuelle Verbesserung der Ressourceneffizienz in einzelnen Bereichen.

Wenn also die Führung in einem Unternehmen auf agiles Arbeiten setzen will, dann muss ihr bewusst sein, dass das Gelingen dieses Vorhabens viel mit ihr selbst, mit der eigenen Haltung zu tun hat, weniger mit der der Mitarbeitenden. Unter Umständen erfordert dies die Erweiterung der eigenen Haltung. Dazu braucht es zunächst einmal Selbsterkenntnis. Außerdem hilft es, genau das praktisch einzuüben, was einen Menschen in einer erweiterten Haltung dann auch im interpersonellen Kontakt auszeichnet: die Fähigkeit, im Austausch mit anderen neue Perspektiven einzunehmen. Haltungserweiternd wirkt zudem, seine eigenen Überzeugungen und Vorannahmen immer wieder zu hinterfragen und unter Einbeziehung der drei Intelligenzsysteme Verstand, Herz und Intuition, mit anderen vernetzt und mit Blick auf den größeren Kontext, über vermeintliche Gegensätze zu reflektieren – die man schließlich in der erweiterten Haltung nicht mehr als Gegensätze wahrnehmen wird, sondern wird inkludieren können. Ein solcher Entwicklungspfad ist nicht linear, zumal auch gilt: Systeme und Strukturen erzeugen Verhalten, und Verhalten prägt Persönlichkeit. Umgekehrt prägen aber eben auch Persönlichkeiten Verhalten und beeinflussen Strukturen und Systeme.

<strong>Martin Permantier …</strong>

Martin Permantier …

… ist Co-Geschäftsführer der Short Cuts GmbH design + kommunikation mit Sitz in Berlin. Er begleitet Unternehmen in Transformationsprozessen und unterstützt sie bei der Entwicklung ihrer Kultur und Identität. Den vorliegenden Text verfasste er mit Unterstützung von Pascal Miserez, der als Co-Unternehmer, Mentor und Berater beim Beratungsunternehmen evitive die Entwicklung von Organisationen und Leadership Teams begleitet. Kontakt zu Martin Permantier: haltung-entscheidet.de

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