Reflexion

Denkimpuls
Denkimpuls

Von Nachträgern und Heimzahlerinnen

Wir leben in einer Zeit, in der Selbstbestätigung leicht zur Egozentrik verkommt – einer Charaktereigenschaft, die uns anfällig für Kränkungen macht. In unserem Selbstwert verletzt, sind wir dann nur auf eines aus: Rache. Doch diese ist meistens weit weniger süß als erwartet.

Nie hatten wir mehr Möglichkeiten, unsere Individualität auszuleben als heute. Nie gab es mehr Gelegenheiten, sich in ein positives Licht zu rücken: erfolgreich sein, gut aussehen, cool bleiben, viele Likes bekommen. Unsere Gesellschaft fördert das Bedürfnis nach Anerkennung und Aufmerksamkeit – und zwar in einem Maße, dass hilfreiche Selbstbestätigung leicht zur Egozentrik verkommt.

Je einzigartiger wir uns finden, desto sensibler reagieren wir auf Äußerungen unserer Umwelt, die nicht unserem persönlichen Ideal entsprechen. Wir werden anfällig für Kränkungserleben, weil unser psychisches Autoimmunsystem nicht mehr funktioniert – und letztlich zu Nachträgern und Heimzahlerinnen, die keinen Zugriff mehr auf ihre Selbstwert stabilisierenden Systeme haben. Als solche kommen wir aus der tiefen Betroffenheit nicht heraus, die wir als Angriff erleben. Und je länger wir diese Kränkungswut mit uns herumtragen, desto länger reift auch der Wunsch nach Vergeltung.

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Kränkungen werden lange mit herumgetragen

Dazu folgende Geschichte: Zwei Mönche müssen auf ihrer Wanderung einen Fluss überqueren. Am Ufer steht eine schöne Jungfrau, die auch hinüber will. Kurz entschlossen nimmt der eine Mönch sie auf seine Schulter und trägt sie. Der andere ist wütend, sagt aber nichts. Ständig bohrt in ihm die Frage: „Wie konnte er das tun – als Mönch eine Frau anzurühren? Kennt er nicht die Mönchsgebote?“ Am Grunde seines Zorns ist eine tiefe Kränkung und rasender Neid. Schließlich erreichen die beiden ihr Ziel – das Kloster ihres Meisters. Sogleich berichtet der eifersüchtige Mönch diesem von der Begebenheit. Der Meister antwortet: „Er hat die Frau am anderen Ufer abgesetzt, du aber trägst sie noch immer.“

Wenn wir uns massiv in unserem Selbstwert verletzt fühlen, wenn unsere Reaktion weit über das Ziel hinausschießt und destruktiv wird, kann sich dahinter eine narzisstische Kränkung verbergen. Das an sich gesunde Kompensationsverhalten („Haut mich nicht um“) wird überkompensiert („Der Sau zahl' ich es heim“). Ich nenne die Nachträger und Heimzahlerinnen auch Rabattmarken-Sammelnde: Sie vergessen nichts, tragen ihre Kränkung mit sich herum und warten auf die passende Gelegenheit, um das Rabattmarkenheft einzulösen. Einzig mit dem Ziel, sich selbst über die anderen zu erheben. Die süße Rache wirkt kurz: Immer mehr Beziehungskredit geht verloren, es gibt nie genug Bestätigung.

Bei einer narzisstischen Kränkung wird das an sich gesunde Kompensationsverhalten („Haut mich nicht um“) überkompensiert („Der Sau zahl' ich es heim“).

Im Rahmen regelmäßiger Supervision tun wir Coachs gut daran, unsere eigenen sensiblen Stellen auf diese Kränkbarkeit hin abzuklopfen. Wir sind Kränkungen nicht ausgeliefert, sondern können ihre Kraft für die Beziehung zu anderen Menschen nutzbar machen – indem wir an unserem Selbstbild, Selbstwert und Selbstbewusstsein arbeiten.

Der Autor: Horst Lempart ist Coach, Supervisor und Speaker. Er hilft seinen Coachees dabei, die eigenen Überzeugungen aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten und sich so aus festgefahrenen Situationen zu befreien. Er führt eine eigene Praxis in Koblenz und hat zahlreiche Fachartikel und Bücher rund um Coaching veröffentlicht. Kontakt: www.horstlempart.de

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